Bestärken, Diskutieren, Erklären, Sensibilisieren, Regulieren …
Während der Einführung ins Studium im September 2023 wurden die neuen Studierenden der HEP|PH FR gefragt, wie sie als Lehrperson von Alice auf diese Situation reagiert hätten. Die 146 Antworten der Studierenden, welche anonymisiert online abgegeben wurden, wurden induktiv kategorisiert. Allein die Vielfalt der Reaktionsmöglichkeiten zeigt die Komplexität der geschilderten Situation auf. Deshalb kann es nicht darum gehen, ein richtiges oder falsches Handeln zu eruieren. Aber die nachfolgende Darstellung der zusammengefassten Reaktionen soll es ermöglichen, die eigene Reaktion mit Handlungsalternativen zu vergleichen und sich in mehrperspektivischem Handeln zu üben. Wir wünschen uns jedenfalls, dass wir mit dieser Zusammenschau ein vertieftes Nachdenken und eine weitere Diskussion zum Sexismus und zur geschlechtsspezifischen Diskriminierung im Schulkontext anregen können – vielleicht gar in diesem Blog.
Als erstes kann festgehalten werden, dass ausser drei der Befragten niemand mit der Reaktion der Lehrperson einverstanden zu sein scheint. Dies wird zum Teil explizit erwähnt, lässt sich aber vor allem implizit aus den geschilderten Reaktionen schliessen. Diese Reaktionen bewegen sich – anders als jene der Lehrperson im Beispiel – zwischen Bestärken, Beraten, Diskutieren, Erklären, Aufklären, Sensibilisieren, Regulieren und Anweisen.
Anders als die Lehrperson, die in ihrer Reaktion die Situation durch Zuschreibungen an die Geschlechter («Jungen sind etwas draufgängerischer und grober») verallgemeinert, würden die Befragten laut Angaben mehrheitlich situationsbezogen reagieren. Das zeigt sich einerseits in den Inhalten der Antworten, laut denen oft versucht würde, Alice ins Spiel zu integrieren. Andererseits wird mehrheitlich auf die an der Situation beteiligten Personen reagiert, was ebenfalls von situationsbezogenen Reaktionen zeugt.
Die Mehrzahl der befragten Studierenden würden sich direkt an die betroffenen Jungen wenden. Hier lassen sich unterschiedliche Formen der Adressierung auseinanderhalten.
Ungefähr die Hälfte der diesbezüglichen Reaktionen lassen sich als Erklärung beschreiben. Diese Erklärungen unterscheiden sich inhaltlich insofern, als dass sie entweder inhalts- oder emotionsbezogen ausfallen. In der Regel wird erklärt, dass der Ausschluss insofern nicht legitim sei, als dass Fussball allen Menschen offenstehe. Gegebenenfalls würden diese Erklärungen auch veranschaulicht, zum Beispiel mit einem Hinweis auf die Fussballnationalfrauschaft. Zwei Personen würden den Jungen erklären, dass Alice sich durch den Ausschluss schlecht oder minderwertig fühlt. Einzelne Erklärungen würden aber auch in dem Sinne verallgemeinert ausfallen, als dass entweder aufgezeigt würde, dass es nicht nur im Fussball gälte, alle Menschen zu integrieren oder darauf hingewiesen würde, dass den Zuschreibungen unhaltbare Stereotypen zugrunde liegen.
Ungefähr ein Viertel der Studierenden, die sich an die Jungen wenden würden, geben an, mit diesen diskutieren zu wollen. Diese Diskussionen hätten entweder zum Ziel, dass die Lehrperson verstehen will, woher das Verhalten oder die stereotypen Zuschreibungen kommen oder zielten auf eine Lösungssuche ab. Bei einer Antwort, die explizit als «Diskussion» bezeichnet wurde, lässt sich wiederum vermuten, dass es vorwiegend darum gehen soll, die Jungen zu überzeugen, dass ihr Verhalten nicht tolerierbar sei.
Ebenfalls zirka ein Viertel der diesbezüglichen Reaktionen würde in Form einer Anweisung ausfallen, in welchen den Jungen schlicht angeordnet würde, Alice zu integrieren, mitunter gar mit der Androhung eines Fussballverbots, falls dieser Anweisung nicht Folge geleistet wird. Schliesslich finden sich auch Antworten, in denen die Studierenden eine Kombination der aufgeführten Reaktionen vorsehen.
Einige Studierende würden das Gespräch suchen wollen. Dabei werden aber mehrheitlich die Jungen adressiert mit dem Ziel, sie davon zu überzeugen, dass Alice mitspielen darf.
Handelt es sich da wirklich um ein Gespräch? Verstehen die Jungen was das Problem ist bzw. sein könnte oder lernen sie dadurch einfach der Lehrperson zu gehorchen?
Deutlich weniger Studierende bleiben in der Schilderung ihrer Reaktion im Gespräch mit Alice. Hier wird praktisch ausnahmslos versucht Alice darin bestärken, dass sie im Recht ist und alle Fussball spielen dürfen. Einige raten Alice zudem an, den Jungen ihren Standpunkt zu erklären und bieten ihr mitunter auch an, sie nötigenfalls auf den Pausenplatz zu begleiten. Ebenfalls wird ihr vorgeschlagen, andere Mädchen dazu zu motivieren, auch Fussball zu spielen. Jemand gibt gar an, Alice dazu zu drängen unbedingt Fussball zu spielen, selbst, falls sie das nicht mehr möchte, um dem untolerierbaren Verhalten der Jungen Einhalt zu gebieten. Schliesslich sollte noch erwähnt werden, dass in einer Antwort der stereotypen Zuschreibung der «groben Jungen» zwar nicht explizit zugestimmt wird, diese aber dennoch konsolidiert wird, wenn Alice angeraten wird, die Jungen darum zu bitten, nicht zu grob zu sein.
Trotz einiger zusätzlicher Angebote handelt es sich bei der Mehrzahl der Adressierungen an Alice um Bestärkungen. Ist dies genügend Rüstzeug für Alice, damit sie selbst für ihr Recht auf dem Fussballplatz einstehen kann? Oder allgemeiner: Reicht es aus, wenn man Menschen sagt, dass sie Opfer von Sexismus sind? Wie weit geht die Verantwortung von Lehrpersonen?
Ungefähr ein Viertel der Befragten geben an, dass sie die an der Situation beteiligten Personen zusammenführen würden. Hier würden einige wiederum, allerdings im Beisein von Alice, den Jungen versuchen zu erklären, dass alle ins Fussballspiel integriert werden sollen. Andere geben an, mit allen Beteiligten zu diskutieren und/oder eine gemeinsame Lösung zu suchen. Einige würden zudem anbieten, Spielregeln aufzustellen oder das Spiel zu beaufsichtigen, damit niemand ausgeschlossen wird. Jemand gibt an, in diesen Diskussionen auch den Grundsatz der Geschlechtskonstruktion und die damit verbundenen Stereotypen anzusprechen.
Zirka ein Fünftel der Befragten würde die Situation mit der gesamten Klasse thematisieren. Hier wird unter anderem vorgeschlagen, dass im Sportunterricht ein Fussballmatch oder -turnier durchgeführt wird, damit einerseits alle integriert werden können und andererseits idealerweise gesehen werden kann, dass die Zuschreibungen an die Geschlechter nicht zutreffen. In eine ähnliche Richtung geht der Vorschlag, die Mädchen zu ermutigen, in den künftigen Pausen auch Fussball zu spielen. Die Mehrzahl der diesbezüglich angegebenen Reaktionen zielt jedoch auf eine verbale Thematisierung im Klassenkontext ab. Auffällig ist hierbei, dass mit der Erweiterung des Adressat·innenkreises auch eine Verallgemeinerung der Thematik vorgesehen ist. Im Gegensatz zu den Reaktionen, die sich nur an die Jungen wenden, würde im Kontext der Klassendiskussion Stereotypisierungen, Diskriminierungen und Sexismus – auch unter Einbezug von Erfahrungsberichten der Schüler·innen – grundsätzlicher diskutiert, unter anderem auch mit der Absicht für die entsprechenden Mechanismen im (Schul-)Alltag zu sensibilisieren.
Wie aber sieht so eine Sensibilisierung aus? Welches Fachwissen braucht es dazu, welche Methodik? Wie weit gehen die Kompetenzen einer Lehrperson? Was für ein Raum muss dafür geschaffen werden? Reichen dafür kurze Gespräche von «quelques minutes»? Sind Erfahrungsberichte hilfreich oder können sie Stigmatisierungen gar verstärken?
Schliesslich gibt eine Person an, im Wiederholungsfall die·den Schulsozialarbeiter·in herbeizuziehen. In dieser Antwort deutet sich nicht nur die Frage nach der Zuständigkeit zur Klärung dieser Problematik, sondern auch eine potenzielle persönliche Überforderung damit an. Jedoch ist dies nur einer einzigen Antwort zu entnehmen. Ob dies den (vermuteten bzw. imaginierten) Anforderungen an die Rolle der Lehrperson, dem Handlungsdruck im Berufsalltag oder anderen Gründen geschuldet ist, kann nicht rekonstruiert werden. Aber es bleibt festzuhalten, dass niemand angibt, bezüglich der Reaktion auf diese komplexe Situation verunsichert zu sein.
Wagen wir eine Rückblende: Sie versuchen während der Einführung ins Studium der Vielzahl an Informationen, die an Sie herangetragen werden, zu folgen und werden plötzlich aufgefordert, eine Reaktion auf einen Konflikt zwischen Schüler·innen zu formulieren. Diese Aufforderung mag Sie überraschen oder verunsichern. Vor allem aber zwingt sie Sie zu einem raschen und relativ spontanen Handeln. Würden Ihre Handlungen jetzt anders aussehen, wenn Sie diese mit anderen Reaktionsmöglichkeiten vergleichen können und mehr Zeit haben, um diese zu reflektieren?
Wenn wir Sie mit dieser Darstellung zum Nachdenken angeregt haben, sie an der Thematik interessiert sind und diese mit uns diskutieren möchten, können Sie gerne mit uns Kontakt aufnehmen. Wir würden uns freuen, wenn wir die Diskussion mit Ihnen weiterführen können, denn es ist gut möglich, dass sie schon bald in ihrem Schulzimmer sitzen, mit den Gedanken in der bevorstehenden Lektion sind und sich plötzlich Alice mit einem Problem an Sie wendet, das sie zu einer umgehenden Reaktion auffordert.