LESEN, LERNEN, DISKUTIEREN: Wie umgehen mit rassistischen Inhalten in der Literatur?
Funktion von Kinder- und Jugendmedien in der Sozialisierung
Kinder- und Jugendmedien spielen eine zentrale Rolle bei der Prägung von Weltbildern und der sozialen Orientierung junger Menschen. Sie «übermitteln Vorstellungen von der Welt und sind an der Tradierung von Stereotypen über Generationen hinweg beteiligt» (Thiele 2015, S. 50). Gerade deshalb ist es notwendig, sie mit einer rassismuskritischen Perspektive zu betrachten. Dieser Artikel beleuchtet problematische Begriffe und Darstellungen in Kinder- und Jugendmedien, plädiert für eine rassismuskritische Perspektive und zeigt für die Schule Strategien im Umgang mit problematischen Inhalten auf.
Den Menschen hinter der Figur erkennen
Kinder lernen bereits in frühester Kindheit die Bedeutung von Kategorien zur Wahrnehmung und Unterscheidung von Menschen. Jens Mätschke (2017, S. 251) meint zum Erlernen dieser Differenzlinien (Gruppenkategorien):
Ab einem Alter von drei Jahren bekommen Kategorien wie wahrgenommenes Geschlecht, Hautfarbe oder vermeintliche kulturelle Herkunft eine höhere Bedeutung – sowohl in der Herausbildung der eigenen Identität als auch in der Klassifizierung von anderen. Kinder lernen, dass Hautfarben im Gegensatz z.B. zu Fingerlängen eine soziale Bedeutung haben.
Werden Menschen aufgrund dieser Merkmale abgewertet, spricht man von Diskriminierung. Auch in Kinder- und Jugendmedien werden Figuren diskriminiert und mit diskriminierenden Merkmalen dargestellt. Mätschke (2017) stellt beispielsweise einen Kausalzusammenhang zwischen Aussehen und Herkunft von Figuren in den von ihm analysierten Werken fest und verdeutlicht damit rassistische Zuschreibungen, welche den Figuren eingeschrieben sind. Diese rassistischen Darstellungen in Wort und Bild zementieren stereotype Denkmuster. Dadurch werden Vorurteile unbewusst reproduziert und eine differenzierte Sichtweise auf Menschen geht verloren. Dies kann dazu führen, dass Menschen aufgrund ihres Aussehens oder einer bestimmten Gruppe von «anderen» zugeordnet werden. Dazu identifiziert Mätschke drei problematische Tendenzen:
- Exotisierung versus Empathie: Oft wird das Anderssein betont, statt eine empathische Verbindung zu schaffen.
- Folklore als Momentaufnahme: Kulturelle Gruppen können statisch und über z.T. Jahrhunderte hinweg unveränderlich dargestellt werden, was der Vielfalt innerhalb dieser Gruppen nicht gerecht wird.
- Schärfung der Differenzlinie: Die Darstellung suggeriert, dass Aussehen untrennbar mit Kultur und Herkunft verbunden sein muss.
Rassismuskritischer Literaturunterricht
Ein rassismuskritischer Zugang zu Kinder- und Jugendmedien kann bereits im Unterricht beginnen. Laut Bernhardt (2024) können Schüler:innen lernen, sich von problematischen Darstellungen irritieren zu lassen und einen kritischen Lesemodus einzuüben. Bereits Primarschüler:innen sind dazu fähig (ebd., S. 272).
Kritischer Umgang mit problematischen Inhalten
Das Ausklammern problematischer Inhalte aus dem Unterricht ist keine Lösung. Bernhardt argumentiert, dass das Auslassen solcher Themen rassistische Strukturen eher festigt, weil sie nicht bewusst gemacht und hinterfragt werden. Ein Beispiel liefert eine Studie aus Deutschland von Akue-Dovi, in der Schwarze Kinder und Jugendliche rassistische Strukturen in Medien erkennen und
hinterfragen. Besonders hervorzuheben ist, dass die Teilnehmenden dabei die von ihnen festgestellte Ungleichbehandlung der Figuren untereinander klar benennen, wie etwa in Pauls Aussage deutlich wird: „Also, er ist wahrscheinlich ja ein Rassist. Er hat was gegen Leute, die nicht so sind wie er. Also, gegen Ausländer dann. Und weil er aussah wie ein Italiener, hat er ihn direkt beleidigt. Ohne ihn zu kennen oder zu wissen, was er will. Ja das ist halt nicht gut“ (Akue-Dovi 2021, S. 9).
Umgang mit rassistischen Begriffen
Stetter (2024) beschreibt verschiedene Strategien im Umgang mit problematischen Wörtern wie beispielsweise dem N-Wort, das lange auch in Pippi Langstrumpf zu finden war:
- Unkommentiertes Belassen: Dies birgt die Gefahr, rassistische Strukturen unwidersprochen zu lassen. Dadurch werden rassistische Wissensbestände reproduziert.
- Belassen und Kommentieren: Diese Strategie bietet die Möglichkeit, problematische Begriffe zu kontextualisieren und aufzuklären.
- Entfernen: Das Streichen problematischer Begriffe wird oft kontrovers diskutiert, da Kinder durch das Auslassen keine Kompetenz im Umgang mit unangemessenen Ausdrücken erwerben können.
Mittlerweile wird in den Pippi-Bänden vom Südseekönig gesprochen und das N-Wort ist ganz aus der Schrift entfernt worden. Aber im Unterricht können gerade solche Begriffe oder problematische Stellen, sofern sie noch in Büchern enthalten sind, nicht einfach weggelassen werden. Die Strategie des unkommentierten Belassens widerspricht den Sozialkompetenzen, wie sie für den Umgang mit Vielfalt im Lehrplan 21 umrissen sind :
Das Erkennen von Diskriminierungsstrategien erfordert also weder ein unkommentiertes Belassen noch kann es der Sensibilisierung dienen, wenn Werke mit problematischen Begriffen grundsätzlich überarbeitet, neu editiert oder zensiert werden. Vielmehr ist es sinnvoll, problematische Inhalte zu behandeln, um diese zu dekonstruieren, um Rassismus in Schulen gezielt thematisiert zu können und damit betroffene Schüler:innen zu stärken (Stetter, 2024, S. 236). Und im gleichen Zuge werden alle Schüler:innen für Diskriminierung in unserer Gesellschaft sensibilisiert und lernen, diese nicht einfach passiv hinzunehmen.
Auf dem Blog mon fils en rose werden zu diesem Zweck das Programm der 4 D vorgestellt: Diversifier – Déconstruire – Décoloniser – Dénoncer. Die Bibliothek – sei dies die Klassen- oder Schulbibliothek – soll gemäss dieser Idee unterschiedliche Lebenswelten und Realitäten der Figuren aufzeigen, die für die Leser:innen wiederum eine grosse Palette an Identifikationsmöglichkeiten schaffen können (siehe dazu auch das Projekt der Einheit Vielfalt und Gleichstellung aus dem Jahr 2022 Diversifions nos bibliothèques). Die Dekonstruktion beinhaltet das genaue Hinschauen und Diskutieren darüber, wie Figuren dargestellt werden, was sie tun und sagen.
Kinder- und Jugendmedien müssen durch eine rassismuskritische Perspektive betrachtet werden. Ähnlich einem Blick durch das Mikroskop lernen wir, mit den Schüler:innen zusammen Machtstrukturen sichtbar zu machen und kritisch zu hinterfragen. Sensibler Umgang mit problematischen Inhalten, wie die Auseinandersetzung mit rassistischen Wörtern, und eine bewusste Reflexion über Stereotype sind entscheidend, um eine weltoffene und inklusive Gesellschaft zu fördern.
Rassismus durch die Zuschreibung kultureller Herkunft ist nur eine mögliche Diskriminierungsform, wie sie in unserer Gesellschaft stattfindet. Geschlecht, Alter und die soziale Schicht sind wenige von vielen weiteren Differenzlinien entlang derer Diskriminierung vollzogen werden kann. Wir laden Sie mit Ihrer Klasse dazu ein, genauer hinzuschauen und problematische Konzepte und Darstellungen auf den Grund zu gehen, denn:
[w]ird eine Lesesozialisation als Unterstützung in der Entwicklung von Individuen zu autonomen und gefestigten Persönlichkeiten gesehen, so ist eine Auseinandersetzung mit Kinderbüchern ein notwendiger und aufschlussreicher Ansatzpunkt, um Kinder zu befähigen, die soziale Realität von Machtunterschieden in einer Gesellschaft zu begreifen und alternative, emanzipatorische Identitäten von Schwarzsein oder Weißsein zu entwickeln. (Mätschke, 2017, S. 250)
Die Auseinandersetzung mit rassistischen Inhalten in Kinder- und Jugendbüchern und Medien allgemein erfordert eine bewusste und reflektierte Haltung. Es geht nicht darum, problematische Werke zu verbieten, sondern vielmehr darum, überhaupt rassistische Narrative zu erkennen und dadurch einen kritischen Umgang mit diesen Werken zu fördern. Durch gemeinsames Lesen, Lernen und Diskutieren können Schüler:innen für diskriminierende Strukturen sensibilisiert und dazu ermutigt werden, alternative Perspektiven einzunehmen. Nur durch diesen reflektierten Ansatz kann Literatur als Werkzeug genutzt werden, um eine offene, diverse und gerechte Gesellschaft mitzugestalten.
Jens Mätschke (2017) stellt Analysekriterien vor, die Leser:innen helfen können, problematische Aspekte in Medien zu identifizieren:
- Animalisierung
- Darstellung als Dienende
- Abwertung religiös-spiritueller Praxen
- Abwertung des körperlichen Erscheinungsbildes
- Primitivierung in der Bekleidung
- Infantilisierung
- Dezivilisierung
- Exotisierung
- Geschichtslosigkeit
- Weisse Dominanz
- Unsoziales Verhalten
- Affinität zu Kriminalität
- Gesellschaftliche Gefahr
Wir laden Sie dazu ein, Texte, in denen Diversität abgebildet wird, entlang dieser Aspekte genauer zu betrachten. Nehmen Sie ein Buch aus der Ausstellung im DZ/CD zur Hand und schauen Sie genau hin: Wie werden die Figuren dargestellt?
Vorschlag für die Kennzeichnung von Büchern / Lehrmitteln mit rassistischen Darstellungen und Begriffen mit Etiketten und Sticker
Mit Hilfe von erklärenden Klebern in Büchern, die rassistische Inhalte enthalten, können Leser:innen für diskriminierende Darstellungen sensibilisiert und eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Texten angeregt werden. Die Etiketten können an den Schulen und in Bibliotheken eingesetzt werden und unterschiedliche Funktionen erfüllen:
- Aufklärung und Kontextualisierung:
Die Kleber sollen darauf hinweisen, dass die dargestellten Inhalte, Begriffe oder Darstellungen rassistisch sind und in einem historischen oder kulturellen Kontext entstanden sind, der heute kritisch hinterfragt wird. - Sensibilisierung für Betroffene:
Ziel ist es, die Leser:innen darauf aufmerksam zu machen, dass solche Inhalte diskriminierend wirken können und die Perspektiven der Betroffenen einbezogen werden müssen. - Ergänzende Informationen anbieten:
Die Kleber enthalten einen QR-Code, der zu weiterführenden Informationen und Medien führt, um Leser:innen zu einem tieferen Verständnis zu ermutigen. - Reflexionsanstoss:
Der Hinweis auf den Klebern soll dazu einladen, sich kritisch mit den Inhalten des Buches auseinanderzusetzen, anstatt sie ungefiltert zu übernehmen. - Klare Kennzeichnung:
Die Kleber enthalten eine eindeutige Warnung oder eine Markierung, um rassistische Passagen direkt zu identifizieren.
Erkunden Sie das Projekt im DZ/CD oder auf der Seite: https://kollektivkrilp.ch/antirassismus/
Akue-Dovi, A. (2022). Kindermedien und Rassismuskritik: Wie Schwarze Kinder Die Reproduktion Von Rassismus in TKKG-Hörspielen Wahrnehmen. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH.
Bernhardt, S. (2024). Auditive Serialität als Möglichkeit zur Dekonstruktion machtaffirmierender Strukturen im Literaturunterricht ab Klasse 4. In M. Kißling & J. Tönsing (Hrsg.), Einfach aussortieren? Anregungen für kritische Lektüren des Literaturkanons (S. 271–289). Frank & Timme.
Mätschke, J. (2017). Rassismus in Kinderbüchern: Lerne, welchen Wert deine soziale Positionierung hat! In K. Fereidooni & M. El (Hrsg.), Rassismuskritik und Widerstandsformen (S. 249–268). Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-14721-1
Stetter, J. (2024). Filmische Adaptionen für einen machtsensiblen Literaturunterricht. In M. Kißling & J. Tönsing (Hrsg.), Einfach aussortieren? Anregungen für kritische Lektüren des Literaturkanons (S. 235–255). Frank & Timme.
Thiele, M. (2015). Medien und Stereotype: Konturen eines Forschungsfeldes. transcript Verlag. https://doi.org/10.14361/9783839427248